Diplomatik
[= Urkundenlehre]
Historische Hilfswissenschaft, die Urkunden, d.h. formalisierte
schriftliche Zeugnisse rechtserheblicher Vorgänge oder
Sachverhalte, untersucht und interpretiert. Entstanden in
Auseinandersetzungen um die Authentizität älterer
Privilegien, ist das discrimen veri ac falsi auch heute noch
eine wichtige Aufgabe der Urkundenlehre, die aber nun auch
Kanzleigeschichte, den Geschäftsgang der Kanzlei und die mit der Urkundenherstellung befaßten
Personen biographisch und sozialgeschichtlich sowie die
ökonomischen Aspekte des Urkundenwesens untersucht.
Über Art und Umfang von Fälschungen, die keineswegs auf das Mittelalter
oder auf Urkunden
beschränkt sind, herrschen bei Nichtfachleuten oft absonderliche
Vorstellungen, auch wird Originalität und Authentizität von Urkunden zu
Unrecht gleichgesetzt. (Mehr über Fälschungen sowie einige Literaturhinweise)
Der Begriff Diplomatik geht auf J. Mabillon ( De re diplomatica
, 1681) zurück. Bis zum Ende der alteuropäischen
Rechtsordnung war die Diplomatik eine juristische Disziplin, die
Fortentwicklung zur historischen Richtung erfolgte u.a. an der
Pariser École des Chartes , am Wiener Institut für
Geschichtsforschung und durch die Herausgeber der Diplomata-Reihe der
MGH.
Man unterscheidet drei große Gruppen von Urkunden, die nach den
spezifischen und den vergleichbaren Merkmalen untersucht
werden:
Die äußeren Merkmale,
die nur am Original untersucht werden können, umfassen
Beschreibstoff und Schrift, Besiegelung und andere
Beglaubigungsmerkmale wie Unterschriften (nicht unbedingt
Namensunterschriften, sondern auch Grußformeln, z.B. das
Benevalete in den
Papsturkunden, oder das byzantinische Menologem) und Zeichen
(signa, Monogramme ), im
späteren Mittelalter auch die Spuren des Geschäftsgangs,
die Kanzleivermerke. Zuerst lassen sie sich an den
päpstlichen litterae des frühen 13. Jahrhunderts
beobachten (
Schema
Papsturkunde ). In Abschriften, vor allem in beglaubigten, werden
diese Erscheinungen - allerdings nicht die Kanzleivermerke - meist
beschrieben , mehr oder weniger genau, und gelegentlich
nachgezeichnet. In diesen Fällen ist dann eine teilweise
Kritik möglich, wenn vergleichbare Originale zur
Verfügung stehen.
Die inneren Merkmale - Stil und
Sprache sowie der formelhafte Aufbau - lassen sich in jedem Fall
auch an Kopie oder Druck erkennen. Zum
Standardformular ma. Urkunden
gehören das
- Protokoll mit
- der Text (auch Kontext genannt) mit
- Eschatokoll mit
Nicht alle Formeln
treten in jeder Urkundenart in gleichem Maße auf, jedoch
enthalten alle Urkunden Informationen über die beteiligten
Parteien (Aussteller und Empfänger), den Rechtsinhalt und in
der Regel über Ort und Zeit der Urkundenausstellung.
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Beginn des Regestum
Pharphense
|
Der Anteil der Originale an der
Überlieferung ist nach Ort und Zeit
unterschiedlich, daneben spielt die
abschriftliche Überlieferung beim
Empfänger (Kopialbuch,
Einzelabschrift) oder beim Aussteller
(Registerüberlieferung) eine Rolle.
Die kontinuierliche Reihe der päpstlichen
Register setzt mit Innocenz III. ein, weltliche
Registerserien folgen später. Überlieferung
eines Dokuments im Register bei Fehlen eines Originals
ist keine Seltenheit, dies kann jedoch verschiedene
Ursachen haben. Andererseits wurden bei weitem nicht alle
ausgehenden Urkunden registriert.
|
Die Mehrzahl der überlieferten Urkunden ist in Latein
abgefaßt, das in der päpstlichen Kanzlei für
feierliche Dokumente bis in die Gegenwart hinein als
Urkundensprache gebräuchlich ist.
Einzelne volkssprachliche Begriffe treten in Urkunden seit der
Karolingerzeit auf, vor allem Onomastica und Toponomastica,
vollständig in der jeweiligen Volkssprache geschriebene
Privaturkunden erst seit dem Beginn des 12.Jh. (prov., span.,
ital., frz.). Ausnahme sind die ags. Urkunden der altenglischen
Könige vor der normannischen Eroberung.
Deutschsprachige Urkunden setzen zu
Beginn des 13.Jh. ein, die älteste dt. Königsurkunde Konrads IV. ist von
1240, als Kanzleisprache verbreitet sich Deutsch erst im Laufe des
14.Jh.
Im Mittelalter sind illuminierte Urkunden selten. Außer einer Gruppe von
Diplomen Ludwigs d. Bayern, deren Initialen Magister Leonhard von
München mit Miniaturen versehen hat, sind es kollektive
Ablaßurkunden (von
1342 für
Deutschnofen; Ausschnitt mit
Initiale U; für Willisau 1517) und
Wappenbriefe (Filippo Maria Visconti, Herzog von Mailand, für Francesco
Bussone, 1414), auf denen Bilder
zu finden sind. Prunksuppliken können ebenfalls Bildschmuck
aufweisen. Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts werden
Schmuckleisten (meist mit Wappen des Ausstellers versehen)
häufiger, deren Verwendung auch in der Neuzeit weiter
andauert (als Beispiel ein Doktordiplom aus Salerno, 1665).
Mehr Informationen in meinem Beitrag zur Ringvorlesung
2002.
Lit.
Einführungen
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médiévale / Olivier Guyotjeannin ; Jacques Pycke ;
Benoit-Michel Tock. Turnhout : Brepols, 1993. - 454 S. : Ill. (L'
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Fotosammlungen, Faksimileausgaben
- Rück Peter (Hg.): Fotografische Sammlungen
mittelalterlicher Urkunden in Europa. Geschichte,Umfang, Aufbau
und Verzeichnungsmethoden der wichtigsten Urkundenfotosammlungen,
mit Beiträgen zur EDV-Erfassung von Urkunden und
Fotodokumenten. [ Historische Hilfswissenschaften 1] Sigmaringen
1989,161 S.
- 1100 Jahre österreichische und europäische
Geschichte in Urkunden und Dokumenten des Haus-,Hof- und
Staatsarchivs. 100 Lichtdrucktafeln mit Transkriptionen und
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- Aus tausend Jahren deutscher Geschichte. Dokumente aus
Archiven der Deutschen Demokratischen Republik. Herausgegeben von
der Staatlichen Archivverwaltung der DDR. Berlin: VEB Deutscher
Verlag der Wissenschaften 1989. 320 S.
- Pirenne Henri, Album belge de diplomatique; recueil de
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par un comité de professeurs et d'archivistes ....
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- Es ist darauf hinzuweisen, daß auch zahlreiche
Tafelwerke zur
Paläographie Abbildungen von Urkunden enthalten.
(zum
Seitenanfang)
Urkundensprache
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- Scalfati Silio P.P.Per l' edizione delle fonti
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140Diplomatik.
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Götze Jochen: Die Litterae Elongatae. Ein Beitrag zur Formengeschichte und
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S. 1-70
Casula Francesco Cesare, Breve storia della scrittura
in Sardegna. La "documentaria" nell´epoca aragonese. [ Edes
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Fototafeln
Bromm Gudrun: Die Entwicklung der Grossbuchstaben im
Kontext hochmittelalterlicher Papsturkunden. Marburg an der Lahn :
Inst. für Historische Hilfswiss., 1995. - 272 S. : Ill. + 13
Beil. (Elementa diplomatica ; 3) Zugl.: Marburg, Univ., Diss.,
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Rezension von Walter Koch
Matthias Kordes, Der Einfluß der Buchseite auf die
Gestaltung der hochmittelalterlichen Papsturkunde. Studien zur graphischen
Konzeption hoheitlicher Schriftträger im Mittelalter. Hamburg :
Kovac; 1993 286, XXXIII S. : Ill.
Papsturkunde / Gestaltung /
Geschichte 1000-1250 Diplomatik. / Initiale / Geschichte <900-1250> Diss.
Köln 1993
Frank M. Bischoff, Urkundenformate im Mittelalter.
Größe, Format und Proportionen von Papsturkunden in Zeiten
expandierender Schriftlichkeit (11.-13. Jahrhundert) (elementa diplomatica
5) Marburg an der Lahn 1996, Institut für Historische
Hilfswissenschaften, 211 S., Abb., 20 Taf.
Nicht mehr im Netz zugänglich ist der
Artikel über
Urkundenwesen
aus dem Lexikon des Mittelalters VIII 1298-1323, der von
verschiedenen Autoren verfaßt wurde und weitere spezielle
bibliographische Angaben enthält. Die Seiten des Metzler-Verlages
bieten nur Informationen für Kaufinteressenten.
Auch die Zahl der im Netz zugänglichen Urkundeneditionen
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ständig zu. Einige Hinweise finden Sie in der VL - (digitale)
Editionstechnik
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Letzte Änderung am 2. März 2007