3. Heilkunde im Mittelalter

Im nachfolgenden Abschnitt wird zunächst auf die Klostermedizin im Mittelalter verwiesen, um das Lorscher Arzneibuch in einen breiteren historischen Kontext einzuordnen; ist dieses doch das früheste Schriftzeugnis der monastischen Heilkunst (Abschnitt 3.1).[69] Daran anknüpfend folgt eine Darlegung der Erkenntnisse zu eben jener Handschrift, welche auch als Codex Bambergensis medicinalis bezeichnet wird (Abschnitt 3.2).[70] Dies hat den Zweck, die Bedeutung des Lorscher Arzneibuches zu untersuchen und zugleich die Möglichkeit dieses digital in Form, etwa als eine HTML-Seite, aufzuarbeiten und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Abschnitt 3.3).


3.1 Klostermedizin

Keil und Platte verweisen darauf, dass jede Untersuchung des Bamberger Codex auf einer konstituierenden Erschließung der frühmittelalterlichen Klostermedizin beruhen muss.[71] Die klösterlichen Institutionen des Früh- und Hochmittelalters vereinten eine doppelte Funktion in sich: Sie fungierten als aktive Zentren praktischen Heilkunde und gesundheitlicher Fürsorge und traten zugleich „als Bewahrer des antiken Heilwissens“[72] in Erscheinung. Das medizinische Denken und Handeln im Mittelalter gründete in seinen wesentlichen Zügen auf den theoretischen Vorgaben der griechischen und römischen Heilkunde, welche das normative Fundament medizinischer Praxis und die Konzeption gesundheitlicher Fürsorge bildeten (siehe Abbildung 5).[73] In ihrem Selbstverständnis galten die Klöster nicht nur als Heilstätten, sondern auch als Orte der körperlich-geistigen Fürsorge und Regeneration; der sogenannten cura animae und cura corporis.[74] Sie vereinten in sich somit nicht zuletzt Ideale der caritas und scientia.[75]

Die monastischen Regelwerke der Ordensgemeinschaften offenbaren eine bemerkenswerte Vielfalt an Normen, welche die Krankenfürsorge gegenüber den Mitbrüdern unterschiedlich konkretisieren. Diese Vorschriften bzw. Bestimmungen der jeweiligen Ordensregeln spiegelten sich auch in der architektonischen Konzeption des klösterlichen Komplexes wider.[76] Jankrift und Reddig verweisen hier insbesondere, auf die Klosteranlage von St. Gallen, welche als exemplarisch gelten darf, da der Grundriss von diesen normativen Vorstellungen Zeugnis ablegt (siehe Abbildung 6).[77] Der Klosterplan von St. Gallen verzeichnet in vierzig Gebäuden auf insgesamt fünf Pergamentblättern den Idealtypus monastischer Baukunst.[78] Der um das Jahr 820 n. Chr. erbaute Komplex verfügte über

„ein[en] Krankenbereich für die Brüder innerhalb der Klausur, das so genannte Infirmarium. Weitere funktionale Gebäude, so die Unterkunft des Arztes und eine eigene Kapelle, schlossen sich diesem an. Für die auswärtigen Gäste existierten zwei unterschiedliche Hospitäler: Eines für die Bedürftigen, eines für die wohlhabenderen und zu Pferde Ankommenden.“[79]

Die ärztlich gebildeten Mönche verrichteten jedoch ihre Heilkunst nicht ausschließlich innerhalb des klösterlichen Milieus. Sie praktizierten auch jenseits der monastischen Gemeinschaft. Beispielsweise fanden sie auch im Umfeld höfischer und fürstlicher Machthaber Aufnahme und Anerkennung, indem sie ihre ärztliche Kunst in den Dienst weltlicher Mächte stellten. Jankrift führt weiter an, dass die Mönchsärzte in einem „nicht zu ergründende[n] Umfang“[80] heilkundige Hilfe für die Bevölkerung leisteten und somit vielfach als Wohltäter in Erscheinung traten. Zudem war ein integraler Bestandteil jedes Konvents der klösterliche Garten, welcher der Kultivierung von Pflanzen und Kräutern mit heilkräftigen Eigenschaften diente (siehe Abbildung 6). Diese Klostergärten haben sowohl in der mediävistischen Forschung als auch in der populären Rezeption wiederholt besondere Aufmerksamkeit erfahren, da sie als zentrales Element monastischer Wissensund Lebenskultur gelten.[81] So wird auch explizit die Verwendung von Heilkräutern in dem, in der vorliegenden Arbeit betrachteten Lorscher Arzneibuch thematisiert, welches veranschaulicht, in welch hohem Maße die monastischen Heilkundigen die naturbasierten Heiltraditionen der Antike rezipierten und diese weiterentwickelten. Deren Wissen über die Wirkungsweisen gründete insbesondere auf der im klösterlichen Garten kultivierten Flora.[82]

Der Niedergang jener über Jahrhunderte kultivierten monastischen Heilkunst wurde im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts eingeleitet.[83] In diesen Jahrhunderten wurden Dekrete von Konzilien erlassen, welche das Erlernen und die Ausübung der Heilkunde, in besonderem Maße die chirurgische Praxis, untersagten.[84] Wenngleich sowohl Bildquellen (siehe Abbildung 7) als auch archäologische Zeugnisse eine tiefergreifende Kompetenz chirurgischer Diagnostik und Praxis bezeugen.[85] In Gestalt der Hildegard von Bingen (*um 1098; †17. September 1179) eine Äbtissin, Benediktinerin und Dichterin, erfuhr die klösterliche Medizin ihre letzte und zugleich intellektuelle Blütezeit, da die Äbtissin in ihren Schriften, das heilkundige Erfahrungswissen mit kosmischen Analogien verbindet. Jankrift beschreibt dies als ein „ganzheitliches Konzept vom Ineinanderfließen des Mikro- und des Makrokosmos“[86]. Die Äbtissin hinterließ überdies ein umfangreiches Corpus „zahlreicher pflanzlicher, tierischer und mineralischer Heilmittel nebst Therapieempfehlungen“[87]. Ein weiterer Aspekt der Klostermedizin ist in der Heiligenverehrung zu finden. Im mittelalterlichen Verständnis besaßen Heilige eine eminente Stellung im Umgang mit Krankheit, Leiden sowie der Vergänglichkeit und dem Tod. So fungierten insbesondere vor der Herausbildung einer urbanen Schriftkultur hagiographische Darstellungen, also die Viten- und Gesta-Berichte von Heiligen, als ein Zugang zum medizinisch-kulturellen Diskurs im Mittelalter.[88] Denn wo die ärztliche Kunst zu scheitern drohte, wandte sich der Mensch an die Heiligen, da von ihnen zahlreiche mit bestimmten Krankheitsbildern assoziiert wurden und für deren Heilung zuständig waren.[89]

Gleichwohl darf im Zusammenhang mit der medizinischen Schriftkultur und insbesondere dem im nachfolgenden Abschnitt 3.2 untersuchten Lorscher Arzneibuch, keineswegs die Bedeutung der Magie in der mittelalterlichen Heilkunde übersehen werden. Der Bamberger Codex beruht zwar explizit auf einer christlichen Haltung und weist jegliche magisch-abergläubische Vorstellungen zurück, jedoch blieb die Volksmedizin von solchen Vorstellungen geprägt. Wie Jankrift betont, wurde die Klostermedizin, wenngleich sie als „Bewahrerin der griechisch-römischen Heilkunde“[90] fungierte, in der Lebensrealität der Bevölkerung und der alltäglichen Praktiken der Heilkunde nur partiell wirksam. Denn zugleich entfalteten sich in der Volksmedizin Praktiken, in welchen magisch konnotierte Heilhandlungen ihren Ausdruck fanden. Deren tatsächliche Ausdehnung und Einflussbereich sind allerdings nur schwer zu ermessen, aufgrund mangelnder schriftlicher Überlieferungen. Ein herausragendes Beispiel hierfür bilden jedoch die Merseburger Zaubersprüche[91], die eine kulturhistorische Einsicht in das Fortleben magischer Praktiken innerhalb des alltäglichen Heilverständnisses der mittelalterlichen Volksmedizin erlauben. Ebenso stellt das altenglische Bald‘s Leechbook bzw. Balds Læceboc (im Deutschen wird es vorzugsweise als Leechbook des Bald oder auch Balds Arzneibuch bezeichnet), welches im 10. Jahrhundert verfasst wurde, ein bedeutendes Zeugnis einer medizinischen Handschrift dar, die über die Präsenz magisch-konnotierter Heilpraktiken in der Alltagskultur ihrer Zeit berichtet.[92] Nicht zuletzt hat Ernst im Jahr 2011 eine Sammlung von Beschwörungen und Segen aus medizinischer Perspektive publiziert, welcher postuliert, dass


„die im Mittelalter geübten verbalen Kriseninterventionen [in Form von Magie und Aberglaube] vielfach als psychosomatische Begleitinstrumente von praktischer Notfalltherapie verstanden und modellhaft mit modernen neurobiologischen Forschungsergebnissen verglichen [werden können].“[93]

3.2 Das Lorscher Arzneibuch

Eine ausführliche äußere Beschreibung des Lorscher Arzneibuchs liegt bereits seit den 1990er-Jahren durch Stoll vor, der das Kompendium transkribierte, detailliert analysierte und in seine literarische Traditionslinie einordnete (siehe Abbildung 8–11).[94] Im Folgenden soll daher lediglich eine kurze Einführung bzw. eine Übersicht erfolgen, die als Grundlage für die digitale Aufbereitung der Inhalte in Form einer HTML-Seite dient. Im Zuge der geistigen und institutionellen Einflussnahme der karolingischen Herrscher des 8. Jahrhunderts erlangten jene von Cassiodor und Benedikt[95] (siehe Abbildung 12 und 13) formulierten Prinzipien einer christlich fundierten und zugleich wissenschaftlich begründeten Medizin eine bemerkenswerte Verbreitung im abendländischen Kulturraum. Im Macht- und Einflussraum der Karolinger kam es im Jahr 743 n. Chr. zu einer systematischen Vereinheitlichung des klösterlichen Lebens durch die Einführung der Benediktinerregel oder auch Benediktsregel, die sogenannte Regula Benedicti, die als verbindliches Regelwerk für die monastischen Gemeinschaften dienen sollte.[96] Sie waren durch sie dazu angehalten, die Pflege „an ihren kranken Mitbrüdern so […] versehen, als seien diese Christus selbst“[97]. Karl der Große intensivierte im Zuge seiner monastischen und administrativen Reformprogramme, welche bereits in Abschnitt 2.1.1 Erwähnung gefunden hatten, diese Bestrebungen, indem er die Orientierung sämtlicher klösterlicher und kirchlicher Bildungsstätten des Frankenreiches an Cassiodors Lehren als verpflichtend festlegte.[98]

In diesen Kontext ist das sogenannte Lorscher Arzneibuch (auch Bamberger Kodex oder Lorscher Kodex) einzuordnen, welches ein in seiner Art singuläres Dokument frühmittelalterlicher Medizin- und Wissenskultur darstellt. Die Handschrift wurde um das Jahr 795 in der Abtei Lorsch an der Bergstraße, dem Monasterium sancti Nazarii, während der Herrschaft Karls des Großen, verfasst.[99] Es weist jedoch vereinzelte jüngere Nachtragungen und Korrekturen auf. Das Werk lässt sich keinem namentlich bekannten Verfasser zuordnen; Conrad geht jedoch davon aus, dass die fünf Rezeptsammlungen, von einem einzigen Autor stammen, allerdings von „verschiedenen Händen, d.h. Schreibern“[100] niedergeschrieben wurden. Die Datierung des Werkes erfolgt unter Berücksichtigung der in vorliegenden Arbeit dargestellten paläographischen Methodik, da das Schriftbild des Lorscher Arzneibuchs eindeutig der frühkarolingischen Minuskel zuzuordnen ist, deren Merkmale in Abschnitt 2.1.1 erläutert wurden.[101] Bischoff differenzierte den Schrifttypus in den 1970er-Jahren weiter und unterschied zwischen einem jüngeren und einem älteren Lorscher Stil; dem letzteren ordnet er auch das Lorscher Arzneibuch zu.[102] Gegen Ende des ersten Jahrtausends gelangte das medizinische Kompendium in die kaiserliche Bibliothek Ottos III. (994–1002) und wurde anschließend durch die Stiftung seines Nachfolgers Heinrich II. (1002–1024) in die Bamberger Dombibliothek überführt. Dort ist es bis in die heutige Zeit verwahrt, als Teil des Bestandes der Staatsbibliothek Bamberg.[103]

Das Lorscher Arzneibuch stellt eine kompilatorische Sammlung von Exzerpten aus diversen pharmazeutischen und medizinischen Schriften dar. Es bezieht sich in besonderem Maße auf die griechisch-römische Antike und deren Autoren und enthält überdies einen Katalog der zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert verbreiteten Rezepturen für Heilmittel (siehe Abbildung 14). Ergänzt wird diese Sammlung unter anderem durch die Hermeneumata sive Glossarium pigmentorum vel herbarum, ein bilinguales Pflanzglossar, welches „mögliche Substanzen als Ersatz für schwer beschaffbare oder teuere Drogen durch günstigere vor Ort erwerbbare nenn[t]“[104]. Darüber hinaus umfasst das Lorscher Arzneibuch ein Verzeichnis der in den Rezepturen gebräuchlichen Gewichts- und Maßeinheiten. Von Interesse ist zudem die De observatione ciborum epistula ad Theodericum regem Francorum, der sogenannte Anthimus-Brief, in dem der medicus Anthimus an Frankenkönig Theuderich I. Normen und Empfehlungen für eine gute Diätetik übermittelt (siehe Abbildung 15).[105] Jankrift verweist insbesondere auf die Vorrede der Handschrift, die sogenannte Defensio artis medicinae. Diese Rechtfertigung der Heilkunde ist in Anlehnung an Cassiodors konzipierter Legitimation der ars medica verfasst worden und wird dem medizinischen Corpus als Programmatik vorangestellt (siehe Abbildung 16).[106] Die Argumentation belegt, dass die Rezeption sowie Implementierung medizinischer Wissensformen und deren Praktiken im monastischen Kontext „trotz politischer Unterstützung“[107] während der karolingischen Renaissance noch immer eines Legitimationsrahmes bedurften. So heißt es in der Defensio artis medicinae in eindrucksvoller Weise:

COGOR RESPONDERE HIS QVI ME INANITER HVNC DICUNT LIBRVM SCRIPSISSE DICENTES PARVM IN EO VERVM ESSE conscriptum. Sed ego eorum uerba tamquam sundus non audiebam (Ps 38,14), quia magis considerabam necessitatem indigentium quam reprehensionem aduersum me bacchantium. Quamobrem respondebo eis non meis sed sacrarum scripturarum uerbis, quia non est respuenda humana penitus medicina, cum eam conster diuinis non esse incognitam libris. Igitur quod dictum est domino favente iam prosequatur.[108]

Ich bin genötigt, denen zu erwidern, die sagen, ich hätte dieses Buch unnützerweise geschrieben, indem sie behaupten, darin stehe nur wenig Wahres geschrieben. Jedoch wie taub hörte ich nicht auf ihre Worte (Ps 38,14), weil ich die Notlage der Hilfsbedürftigen für wichtiger ansah als den Tadel derer, die gegen mich tobten. Deshalb werde ich ihnen erwidern, nicht mit meinen eigenen Worten, sondern mit denen der Heiligen Schriften. Ist doch die menschliche Heilkunst durchaus nicht zu verschmähen, da feststeht, daß sie den göttlichen Büchern nicht unbekannt ist. Das bisher Gesagte werde also mit der Gunst des Herrn nunmehr fortgesetzt.“[109]

Non solum autem mentionem eius facere in diuinis cognoscimus libris, sed et specierum, unde aliquando fieri constat, nomina inuenimus. Legitur enim in Hieremia: Numquid resina non est in Galaad aut medicus non est ibi? Quare ergo non est obducta cicatrix? (Jer 8,22) Et rursum idem propheta: Si laueris, inquid, te nitro et multiplicaueris tibi herbam borith, maculata es (Jer 2,22)."[110]

„Wir nehmen aber wahr, dass nicht nur die Medizin als solche in den göttlichen Büchern erwähnt wird, sondern wir finden auch Namen von Arzneisorten, aus denen sie jeweils hergestellt wird. Denn bei Jeremias liest man: „Ist denn kein Balsam in Gilead oder ist kein Arzt dort? Weshalb also ist die Narbe nicht abgeheilt.“ (Jer 8,22) Und wiederum derselbe Prophet: „Wenn du dich“, sagt er, „auch mit Natron gesäubert hast und viel Seifenkraut angewendet hast, bist du doch befleckt (Jer 2,22)."[111]

Tribus enim ex causis infirmitates accidunt corpori, id est ex peccato, ex temptatione, ex intemperantia passionum; sed huic tantum nouissimae humana potest medicina succurrere, illis autem sola pietas diuinae misericordiae. Uerumtamen et ipsae aliquando non curabantur sine solacio humano. Quod melius ostendimus, si testimonium adhibebimus. Ex peccato quippe flagellabatur Saulus oculorum amissione, sed tamen non nisi hominis curatur manus inpositione (Act 9,8–18)."[112]

„Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheit befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit. Nur dieser letzteren kann menschliche Heilkunst abhelfen, jenen aber einzig und allein die Liebe der göttlichen Barmherzigkeit. Gleichwohl wurden auch sie bisweilen nicht ohne menschliche Beihilfe geheilt. Das legen wird besser dar, wenn wir einen Beleg bringen. Aufgrund von Sünde nämlich wurde Saulus mit dem Verlust des Augenlichts geschlagen, wird jedoch nur geheilt durch die Handauflegung eines Menschen (Apg 9,8–18).“[113]

Es ist somit festzuhalten, dass sich der konsequente „hippokratische, durch christliches Gedankengut überformte Geist des Kompendiums“[114] in der gezielten rhetorischen Distanzierung gegenüber magischen Praktiken der Volksheilkunde manifestiert.[115] Die bewusste Exklusion magischer Elemente fungiert als implizierte Bestätigung, dass die in Abschnitt 3.1. erörterte Verbindung zwischen Magie und Volksmedizin von fortdauernder Relevanz im Frühmittelalter war. Die Durchdringung medizinischen Wissens mit christlicher Sinngebung spiegelt sich exemplarisch auch in jenen Rezeptformulierungen wider, die den göttlichen Beistand betonen und den medizinischen Heilungsakt ausdrücklich in den Willen Gottes einbetten. Dies macht folgendes Beispiel aus Rezept Nr. I, 45 deutlich:

Ipse dominus, qui haec ad suffragium nobis contulit, mire adiuuat, quando uoluerit."[116]

„Der Herr selbst, der uns dies als Unterstützung angedeihen läßt, hilft auf wunderbare Weise, wenn er es will“. [117]

Der Abschnitt des Bamberger Kodex, welcher 55 der insgesamt 75 Blätter umfasst und somit den zentralen Korpus dieser medizinischen Handschrift konstituiert, birgt die sogenannten Rezeptarien bzw. die Antidotarien.[118] In diesen lassen sich zwei fundamentale Ordnungssysteme nachweisen, die von Galen kanonisiert wurden; das eine Prinzip richtet sich nach dem Ort der Anwendung, das andere hingegen nach der Beschaffenheit der Arznei. Nach Stoll können die Komponenten dieser Rezepturen in fünf Kategorien eingeteilt werden: a) Titel, b) Indikation, c) Zusammensetzung, d) Herstellung, e) Dosierung bzw. Anwendung.[119] Im Kontext der in Abschnitt 3.1 vorgestellten Klostermedizin ist hervorzuheben, dass das Lorscher Arzneibuch das Repertoire des 5. und 6. Jahrhunderts an Rezepturen und medizinischen Praktiken präsentiert, zugleich aber um Neuerungen und zeitgemäße Adaptionen erweitert wurde. Die Zuschreibung zur Mönchs- und damit zur Klostermedizin erscheint, so Stoll, nur dann angemessen, wenn sie im Rahmen einer chronologischen Perspektive verstanden wird, die „die Entstehungszeit der erhaltenen Rezeptsammlung“[120] berücksichtigt. Jede Einzelrezeptur im Lorscher Arzneibuch ist in ihrer konkreten Gestalt einzigartig, wenngleich die Mehrheit inhaltliche und formale Parallelen zu vergleichbaren Anweisungen aufweist. Gelegentlich auftretende Hinweise auf explizit erwähnte Verfasser im Editionsteil der Handschrift markieren zumeist lediglich eine mittelbare Beziehung zu den Primärquellen des Lorscher Arzneibuchs. Vor diesem Hintergrund postuliert Stoll, dass „Kontamination und Interferenz […] hier als gattungsspezifisch hinzunehmen [sind]“[121].

Abschließend ist nach dem Historiker zum Typus der Handschrift festzuhalten, dass das Lorscher Arzneibuch nicht lediglich eine Rezeptsammlung darstellt, sondern auch Teile der bereits oben genannten Diätik sowie darüber hinaus „zur pharmazeutischen Praxis gehörende Schriftgattungen mit ein[bezieht]“[122]. Conrad pflichtet dem Befund ebenfalls bei; ihm zufolge stellt das Werk keine bloße medizinische Sammlung dar, als vielmehr einen programmatischen Entwurf zur Reorientierung und Konsolidierung des Heilwissens im Kontext der christlichen Wertvorstellung des Frühmittelalters.[123]


3.3 Zur digitalen Erschließung des Codex Bambergensis medicinalis

In den vorangegangenen Abschnitten wurde zum einen die Bedeutung digitaler Methoden für die Hilfswissenschaften im digitalen Zeitalter (Abschnitt 2) erläutert und zum anderen Heilkunde im Mittelalter sowie das Lorscher Arzneibuch in seinem historischen und quellenkundlichen Kontext vorgestellt (Abschnitt 3). Der praktische Anteil dieser Arbeit liegt in der begleitenden HTML-Seite, welche exemplarisch aufzeigt, wie eine digitale Erschließung einer mittelalterlichen Handschrift gestaltet werden kann.

Das Lorscher Arzneibuch stellt für die Annäherung an die digitale Aufarbeitung medizinischer Schriftkultur des Mittelalters eine vielversprechende Quelle dar. Während die Transkription und Digitalisierung der Schrift bereits durch die Staatsbibliothek Bamberg erfolgt sind, erlaubt die Darstellung in Form einer HTML-Seite eine kontextualisierte Vermittlung. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2.2. dargestellten Überlegungen, können beispielsweise Verweise auf die digitalisierte Handschrift der Staatsbibliothek erfolgen und auch eigene Anmerkungen hinzugefügt werden, um die von Wachter beschriebene „astartige Struktur“[124] zu gestalten. Darüber hinaus können Abbildungen begleitend eingebunden, einschlägige Literatur sinnvoll angeführt und nicht zuletzt auch weiterführende Web-Links, darunter auch zu Wikipedia-Artikeln, eingearbeitet werden. Obwohl die Konsultierung von Wikipedia in akademischen Kontexten lange Zeit kritisch betrachtet wurde, hebt Enzensberger hervor, dass „der Nichtspezialist […] außerhalb der deutschsprachigen Wikipedia kein vergleichbares Informationsangebot zu Handschriften und Bibliotheken finden [dürfte]“[125]. Ungeachtet ihrer Stärken und Schwächen gilt jedoch hier, wie auch bei allen anderen Quellen, dass Informationen stets einer kritischen Überprüfung unterzogen werden müssen.[126] Nur durch eine reflektierte Nutzung solcher digitaler Ressourcen kann eine zugängliche, dynamische und auch interaktive Präsentationsform entstehen, welche das historische Material im Sinne einer digitalen Geschichtswissenschaft, der sogenannten Digital History und folglich auch ihrer Grund- bzw. Hilfswissenschaften neu erschließt. In diesem Zusammenhang ist abschließend auf die Website Historische Hilfswissenschaften von Professor Horst Enzensberger (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) zu verweisen. Unter der Rubrik „Beiträge von Studierenden“ finden sich zahlreiche relevante Ausarbeitungen, darunter die Arbeit von Altrichter (2000), der sich ebenfalls im Rahmen einer Übung mit dem Thema „Digitalisierung und Paläographie“ auseinandersetzte. In seiner Arbeit diskutiert er über die Möglichkeiten und insbesondere die Vorteile der digitalen Präsentation von mittelalterlichen Handschriften.[127] Von besonderem Interesse ist darüber hinaus der Aufsatz von Twycross (1999), welcher bereits bei Altrichs Arbeit rezipiert wurde und frühe Ansätze der Verbindung von Digitalisierung und Paläographie erörtert.[128]



[69]Vgl. Müller-Kaspar/Uzunoglu, 2005, S. 14 und Mayer, 2002, S.11. Zu einer Auswahlbibliografie für „Heilkunde im Mittelalter“, vgl. Riha, 2005, S. 4–10.

[70]Zum Lorscher Arzneibuch siehe Conrad (1989), Stoll (1992) sowie Stoll (1991, S. 29–80). Ferner ist auch auf die Dissertation von Körlings-König aus dem Jahr 1992 zu verweisen, in der die Autorin insbesondere die im Arzneibuch beschriebenen Krankheitsbilder systematisch untersucht (vgl. Körlings-König, 1992, S. 23–110). Überdies hat Keil auf die Bedeutung des Wortes „Arzneibuch“ hingewiesen und in diesem Zusammenhang die betreffende Handschrift erstmals als Lorscher Arzneibuch bezeichnet (zur Namensgebung: Platte, 1991, S. 81; zur Terminologie: Keil, 1991, S. 7–10).

[71]Keil/Platte, 1989, S. 11; regionale Beispiele für monastische Heilkunst sind der Aufsatz von Niedenthal über „Klostermedizin in Bayern“ sowie Baaders Beitrag „Mittelalterliche Medizin in bayerischen Klöstern“, vgl. Niedenthal, 2022, S. 18–23 und Baader, 1973, S. 275–296.

[72]Jankrift, 2003, S. 39.

[73]Ebd., S. 7.

[74]Ebd., 2016, S. 13.

[75]Ebd., 2003, S. 39.

[76]Ebd.

[77]Vgl. ebd.; Reddig, 2000, S. 37–39 und Gleba, 2004, S. 78–80.

[78]Reddig, 2000, S. 37.

[79]Jankrift, 2003, S. 39–40.

[80]Ebd., S. 40.

[81]Vgl. unter anderem Müller-Kaspar/Uzunoglu, 2005, S. 59–183 und Mayer/Goehl (Hrsg.), 2003, S. 1–257 sowie den reich illustrierten Beitrag von Stoffler, 2002, S. 7–135.

[82]Jankrift, 2003, S. 27.

[83]Frohn, 2001, S. 37–38.

[84]Vgl. Jankrift, 2003, S. 31 und S. 40 sowie Keil/Platte, 1989, S. 15. Von entscheidender Bedeutung war hierbei das Konzil von Clermont im Jahr 1130, welches ein Verbot der ärztlichen Tätigkeit für Mönche aussprach (Conrad, 1989, S. 6).

[85]Jankrift, 2003, S. 40. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das in der vorliegenden Arbeit betrachtete Lorscher Arzneibuch keinen separat konzipierten Abschnitt für die chirurgische Praxis enthält.

[86]Jankrift, 2003, S. 40; vgl. zur Biografie der Hildegard von Bingen, ebd. S. 28–29 und Reddig, 2000, S. 46–53.

[87]Jankrift, 2003, S. 40.

[88]Ebd.; vgl. hierzu Reddig, 2000, S. 23 und Jankrift, 2005, S. 15–20.

[89]Jankrift, 2003, S. 40.

[90]Ebd., 2012, S. 15.

[91]Vgl. zu den Merseburger Zaubersprüchen den einleitenden Beitrag von Beck (2015, S. 3–64) sowie dessen umfangreiche Untersuchung heidnisch-althochdeutscher Zeugnisse. Im Kontext der vorliegenden Hausarbeit ist aus diesem Werk das Kapitel IV. „Die Handschrift und der Text“ von besonderem Interesse, vgl. ebd., 2003, S. 216–251.

[92]Jankrift, 2012, S. 16; vgl. zudem zu Krankheit, Medizin und Magie Riha, 2005, S. 64–72 und Wolff, 2021, S. 47– 54.

[93]Ernst, 2011, o. S.

[94]Vgl. Stoll, 1992, S. 11–45. Mit seiner 1992 erschienenen Dissertation legte Stoll die bis heute grundlegende Edition des Lorscher Arzneibuches vor, deren Ziel die editorische Sicherung und Bereitstellung des Materials lag (ebd., S. 11). Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung historischer Quellen verschiebt sich das gegenwärtige Forschungsinteresse zunehmend hin zu Fragen der digitalen Vermittlung und Präsentation.

[95]Dies bezieht sich auf den römischen Gelehrten Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus (kurz: Cassiodor, lat. Cassiodorus (*zwischen 484 und 490; †um 580 n. Chr.) sowie auf den Ordensgründer Benedikt von Nursia (*um 480; †21.März 547 n. Chr.), welcher die Regula Benedicti etwa sieben Jahre vor seinem Tod anfertigte; Frohn beschreibt die beiden Grundprinzipien, „de[n] ideelle[n] Benedikts wie de[n] rationale[n] Cassiodors“ (Frohn, 2001, S. 21), als eine „perfekte Symbiose“ (ebd.) und darüber hinaus als einen unentbehrlichen Bestandteil der klösterlichen Medizin; vgl. zudem Mayer/Goehl, 2003, S. 5–8 und Faust, 1997, S. 67–116.

[96]Vgl. Jankrift, 2003, S. 12; Dora, 2016, S. 7; Ohlmeyer, 1992, S. 109–114 und Dinzelbacher/Hogg, 1997, S. 5. Die Prinzipien der Regula Benedicti spiegeln sich ebenfalls in der „Rechtfertigung der Heilkunde“ im Lorscher Arzneibuch wider, vgl. Stoll, 1992, S. 63.

[97]Jankrift, 2016, S. 13.

[98]Ebd., 2003, S. 14; vgl. zudem Müller-Kaspar/Uzunoglu, 2005, S. 15 und Frohn, 2001, S. 35–36.

[99]Jankrift, 2003, S. 14 und Schipperges, 1990, S. 15.

[100]Conrad, 1989, S. 10; vgl. Müller-Kaspar/Uzunoglu, 2005, S. 14 und Mayer, 2002, S. 36.

[101]Zu den Datierungsansätzen des Bamberger Kodex im Kontext paläographischer Forschung, vgl. Stoll, 1992, S. 12– 13.

[102]Bischoff, 1974, S. 18–52.

[103]Jankrift, 2003, S. 14; vgl. Schipperges, 1990, S. 15 und Platte, 1989, S. 23–27.

[104]Jankrift, 2003, S. 14.

[105]Zur mittelalterlichen Diätetik, vgl. Sulzer, 2016, S. 6 und S. 23–33.

[106]Jankrift, 2003, S. 14–15.

[107]Ebd., S. 15.

[108]Rechtfertigung der Heilkunde zitiert nach Stoll, 1992, S. 48.

[109]Ebd., S. 49.

[110]Ebd., S. 50.

[111]Ebd., S. 51.

[112]Ebd., S. 50.

[113]Ebd., S. 51.

[114]Jankrift, 2003, S. 15; vgl. ebd., 2005, S. 34.

[115]Ebd., S. 15; vgl. zudem Riha, 2005, S. 64–72.

[116]Lorscher Arzneibuch, Rezept Nr. I, 45 [Ein Heiltrank zur Vernichtung von Würmern, die beim Menschen auftreten] zitiert nach Stoll, 1992, S. 126.

[117]Ebd., S. 127.

[118]Ebd., S. 19.

[119]Ebd.

[120]Ebd., S. 21.

[121]Ebd.

[122]Ebd., S. 23.

[123]Conrad, 1989, S. 10.

[124]Wachter, 2021, S. 22.

[125]Enzensberger, 2015, S. 183; vgl. van Dijk, 2015, S. 2.

[126]Der Sammelband „Die Wikipedia – das ideale Hilfsmittel für den Einstieg in ein historisches Thema?“ (2015), mit bewusst fragendem Titel, bündelt eine Vielzahl von Aufsätzen, die das Potenzial und die Grenzen dieser digitalen Enzyklopädie kritisch diskutieren; insbesondere sind die Beiträge von Schulenburg (2015, S. 93–102), Hübner (2015, S. 185–204) und van Dijk (2015, S. 1–14) hervorzuheben.

[127]Altrichter, 2000, S. 1–13.

[128]Twycross, 1999, S. 257–284.

Abbildung 5: Unterrichtsszene, Detail der ersten Seite von ,Aphorismen‘ von Hippokrates mit ,Kommentaren‘ von Galen (um 130–201), aus einem Manuskript mit Werken von Hippokrates, Galen (Pergament).




Abbildung 6: Der Klosterplan von St. Gallen zeigt im oberen linken Bereich das Ärztehaus, darüber der Heilkräutergarten. Unterhalb des Ärztehauses befindet sich das Haus zur Verköstigung nach Aderlass und Arzneitrunk. Auf der rechten Seite ist das Kranken haus mit dem angrenzenden Kreuzgang zu erkennen. Eine ausführliche Beschreibung des Planes findet sich auf der Website von Campis Galli (Karolingische Klosterstadt). Der Klosterplan ist in etwa auf das Jahr 830 n. Chr. zu datieren, in welchem er von Mönchen auf der Insel Reichenau (Bodensee) angefertigt wurde.




Abbildung 7: Chirurgie, aus einer Ausgabe des ,Book of Surgery‘ von Rogier de Salerne.

Abbildung 8 und 9: Der Vorderdeckel (links) und der Buchrücken (rechts) des Lorscher Arzneibuchs. Lorsch, um 800 n. Chr.
Das Material des Buches besteht aus weißem Schweinsleder, das auf dem Holzdeckel einen roten Schnitt aufweist. Aus Papier bestehen lediglich zwei Vorsatzblätter, der übrige Teil setzt sich hingegen aus fünfundsiebzig Pergament-Folios zusammen (vgl. Stoll, 1992, S. 14).


Zur äußeren Beschreibung nach Ulrich Stoll:

„Vorderseite: Stempelprägung: Kapitelwappen – der thronende Kaiser Heinrich, mit der Umschrift, Capitulum Bambergense‘ – umgeben von fortlaufenden Rollenstempeln (lesen lassen sich folgende Prägungen: ,Datae sunt mihi‘, ,Tu es Petrus et‘, ,Apparuit BRN‘,,Ecce A (g) nus de (i)‘).

Rückseite: Goldstempel-Prägung: Das vereinigte Wappen des Johann Christoph Neustetter, genannt Stürmer (Domprobst 1610–1638), und des Hektor von Kotzau (Domdechant 1610–1619) mit der Umschrift: ,I C N S H V K D D‘ “
(Stoll, 1992, S. 13).


Abbildung 10: Lorscher Arzneibuch. Lorsch, Anfang 9. Jahrhundert.




Abbildung 11: Einblick in das Lorscher Arzneibuch. Lorsch, um 800 n. Chr.




Abbildung 12: Die Abbildung zeigt Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus (sitzend gegenüber des Theoderich), fol. 2r aus Leiden ms. vul. 46 (Gesta Theodorici), Handschrift auf Pergament. Fulda, datiert 1176/7.




Abbildung 13: Dargestellt ist der heilige Benedikt, der sein Regelwerk dem heiligen Maurus sowie zwei weiteren Mönchen überreicht. Die Szene entstammt einer französischen Miniatur aus einem Manuskript der Regula Benedicti aus der Abtei Saint-Gilles, das auf das Jahr 1129 datiert ist.




Abbildung 14: Die Darstellung zeigt die literarische Traditionslinie, in welche das Lorscher Arzneibuch zu situieren ist.




Abbildung 15: Die Abbildung zeigt die Epistula Anthimi ad Theodoricum regem.




Abbildung 16: Die Abbildung zeigt das Vorwort bzw. die Defensio artis medicinae.