Ringvorlesung: Zeichen 27. Mai 2002
Urkundenschriften
Die Kursive, die aus der historischen Entwicklung heraus die Schrift von
Urkunden war, wurde vielfach als notwendiges Kennzeichen von Urkunden
angesehen. Zumindest im Bereich organisierter Urkundenproduktion, sei es
in Kanzleien oder Kollegien von Tabelllionen, war diese Form die
übliche. Auch die Reform der Karolinger hält an einer
graphischen Sonderform für Urkunden fest. In der byzantinischen
Kaiserkanzlei wurden für bestimmte Teile der Urkunden die sogenannten
litterae caelestes , eine römische Kursive, verwendet, die
möglicherweise als Vorbild für die abendländische Elongata
angesehen werden kann.
Traditionelle Vorstellungen über das notwendige Aussehen von Urkunden hatten
im Süden der Apenninhalbinsel zur Beibehaltung der aus der spätantiken
Tradition stammenden Kurialschriften geführt. Allerdings war die
Schriftkultur der Notare im Lauf der Jahrhunderte nicht mehr so gepflegt,
daß die Formen hinreichend kalligraphisch und damit lesbar waren. Im
Königreich Sizilien erließ Friedrich II. daher im Rahmen der
Konstitutionen von Melfi (1231) die Vorschrift “De instrumentis
conficiendis” , mit der die Verwendung von Pergament und einer litteratura
communis et legibilis für Notariatsinstrumente und Cautiones angeordnet
wurde. Für Neapel, Amalfi und Sorrent wurde eine Frist von zwei Jahren
gesetzt, binnen derer die auf chartis bombycinis geschriebenen
Schriftstücke neu geschrieben werden sollten: ad communem litteraturam
legibilem redigantur . Wiederholt wurde dies in der Konstitution “De
renovatione privilegiorum”, die zum Einen darauf zielte, die Namen
politischer Unpersonen wie des letzten normannischen Königs Tankred aus den
Urkunden zu entfernen, und zum Andern, die als scriptura illegibilis
bezeichnete Kuriale aus den Notariatsinstrumenten zu verbannen . Diese
Bestimmungen hatte nur teilweisen Erfolg. Es kam zwar an manchen Orten zu
groß angelegten Abschriftenaktionen, Kurialschrift in Instrumenten ist aber
noch im 14.Jahrhundert anzutreffen, ja vereinzelt sogar noch darüber
hinausgehend.
Zu den verbreiteten Vorstellungen gehört auch die Ansicht, daß die
Beteiligten selbst zu unterschreiben hätten, wie dies aus der
römischrechtlichen Norm hervorging. Dies setzt natürlich Schriftkenntnis
voraus, die wohl nicht als selbstverständlich angesehen werden kann. Als
Alternative wurde dann das signum manus geschaffen, um die persönliche
Beteiligung, die anscheinend als unabdingbar galt, sicherstellen zu
können.
Die paläographische Untersuchung von Zeugenunterschriften hat Einsichten in
den Grad der Alphabetisierung ermöglicht, die Folge einer entsprechenden
Ausbildung ist. Allerdings dürfte sich in vielen Fällen die Fertigkeit in
der Schrift darauf beschränken, eine eigenhändige Unterschrift auf das
Pergament setzen zu können. Armando PETRUCCI hat eine Elementarschrift
festgestellt, die wohl zu einem Grundlehrprogramm gehört hat und die nicht
zu umfangreicherer Schreibtätigkeit befähigte. Diese blieb teils
professionellen Schreibern, teils auch Klerikern mit entsprechender
Ausbildung vorbehalten. Dies ergibt sich aus der Analyse der autographen
Unterschriften, bei denen die Kleriker insgesamt einen höheren Anteil an den
eigenhändigen Unterschriften haben.
Für das merowingische Frankenreich des
7. Jahrhunderts zeigt sich, daß von 138 ‘Unterschreibern’ nur 37 nicht
eigenhändig unterfertigen, also Analphabeten sein können; darunter befinden
sich kein Kleriker und zwei Frauen. Bei den Alphabetisierten sind 53
Laien, 37 Kleriker, 2 Frauen und 9 , die nicht genauer zu bestimmen sind.
In Italien ist das Material weitgehend auf Ravenna beschränkt: von 35
Zeugen sind nur 3 als Analphabeten anzusehen, darunter zwei Frauen. Bei
den Autographen sind 29 Laien und 3 Kleriker. Die Verbindung Ravennas mit
dem griechischen Osten dokumentieren die 3 Unterschriften, die einen
lateinischen Text in griechischen Buchstaben aufzeichnen. Für das
Frankenreich sind im 8. Jahrhundert keine Aussagen mehr möglich, da
Veränderungen im Urkundenwesen dem Rogatar eine stärkere Position
verschafft haben, sodaß er praktisch auch die Zeugenunterschriften selbst
schreibt, ohne daß man daraus nun den Schluß ziehen dürfte, daß ein
plötzlicher Bildungsverfall zu einem katastrophalen Rückgang der
Alphabetisierung geführt habe .
Im Langobardenreich verfügen wir im 8.
Jahrhundert über 180 Originale mit 988 Zeugenunterschriften, von denen 633
Laien und 355 Kleriker sind. Eigenhändig sind 326 Unterschriften (32,7%).
Die Oberschichten haben einen hohen Anteil unter den Zeugen. Von den Laien
haben 14 % autograph unterfertigt, von den Klerikern 65%. Unter den
Alphabetisierten haben die Geistlichen einen Anteil von 71%.
Für andere
Urkundengebiete lassen sich derartige Untersuchungen wegen des Fehlens von
genügend Originalen nicht durchführen.
In Südostdeutschland etwa besitzen
wir zwar einige im Original erhaltenen Königs- und Kaiserurkunden, während
wir z.B. bayerische Herzogsurkunden nur aus der Überlieferung in den
älteren Traditionsbüchern kennen.
© Horst Enzensberger 2002
Letzte Änderung am 5. Dezember 2003